Sicherheitsanforderungen gemäß ISO TS15066

Sicherheitsanforderungen gemäß ISO TS15066

Biomechanische Belastungsstudien

Die Richtlinie ISO TS15066 präsentiert sich als Sicherheitsleitfaden für kollaborative Roboteranwendungen und soll vermeiden, dass es zu Verletzungen der Mitarbeiter durch einen Roboter kommt. Doch ab welcher Kraft schmerzt den Menschen der Stoß durch einen Roboter? Wann kommt es zum Schmerzeintritt durch Klemmungen und Quetschungen? Um das herauszufinden sind Praxistests am lebenden Objekt nötig.

Einsatz des IFA-Druckalgometers zur Bestimmung von kraftbasierten Grenzwerten für Klemmungen und Quetschungen. (Fraunhofer-Institut IFF)

Im Februar 2016 veröffentlichte die ISO die langerwartete Richtlinie ISO TS15066. Seitdem steht ein umfangreicher Leitfaden zur Verfügung, der konkrete Sicherheitsanforderungen für kollaborative Robotersysteme in den folgenden Betriebsarten festlegt:

  • Sicherheitsgerichteter überwachter Halt: Der Roboter stoppt, wenn ein Mensch den gemeinsamen Arbeitsbereich betritt und bleibt in diesem Zustand, solange sich ein Mensch im gemeinsamen Arbeitsbereich aufhält.
  • Geschwindigkeit- und Abstandsüberwachung: Mensch und Roboter arbeiten gleichzeitig im gemeinsamen Arbeitsbereich. Risikominderung wird durch Aufrechterhaltung eines Mindestabstands erreicht. Der Roboter stoppt sofern dieser Abstand unterschritten wird.
  • Leistungs- und Kraftbegrenzung: Direkter Kontakt zwischen Roboter und Mensch ist erlaubt. Risikominderung wird durch die Einhaltung biomechanischer Grenzwerte erreicht.
  • Handführen: Bewegungsbefehle des Menschen werden direkt in eine Roboterbewegung umgesetzt. Risikominderung wird durch eine übersichtliche Arbeitsplatzgestaltung, sichere Geschwindigkeitsbegrenzung und intuitive Bedienung erreicht.

Die Praxis hat gezeigt, dass die Wahl der richtigen Betriebsart nicht immer leichtfällt. Das Fraunhofer IFF hat zum Zwecke der Vereinfachung eine leicht zu handhabende Systematik entwickelt, die lediglich auf die folgenden drei Hauptmerkmale einer MRK-Applikation aufsetzt:

  • Gemeinsamer Arbeitsbereich: Mensch und Roboter teilen sich einen gemeinsamen Arbeitsraum.
  • Gleichzeitige Zusammenarbeit: Mensch und Roboter arbeiten gleichzeitig im gemeinsamen Arbeitsraum.
  • Physischer Kontakt: Mensch und Roboter arbeiten Hand in Hand (physischer Kontakt ist für die Durchführung der Arbeit erforderlich).

Die Reihenfolge der Hauptmerkmale folgt einer impliziten Logik, aus der hervorgeht, dass z.B. eine gleichzeitige Zusammenarbeit von Mensch und Roboter nur stattfinden kann, wenn es einen gemeinsamen Arbeitsraum gibt. Weiterhin kann ein physischer Kontakt nur auftreten, wenn Roboter und Mensch gleichzeitig zusammenarbeiten. Die vier möglichen Implikationsfolgen können dann den folgenden Formen einer MRK widerspruchsfrei zugeordnet werden:

  • Koexistenz: Mensch und Roboter führen in getrennten Arbeitsbereichen eigenständige Arbeiten durch, die keinen unmittelbaren Bezug zueinander haben (getrennte Prozesse). Die Mensch/Roboter-Koexistenz ist die häufigste Form, die in Produktionsbetrieben mit Robotern aktuell zu finden ist.
  • Sequentielle Kooperation: Mensch und Roboter arbeiten nacheinander in einem gemeinsamen Arbeitsbereich um ein gemeinsames Prozessziel zu erreichen. Während sich ein Mensch im Arbeitsbereich aufhält, ist der Roboter gestoppt.
  • Parallele Kooperation: Mensch und Roboter arbeiten gleichzeitig in einem gemeinsamen Arbeitsbereich um ein gemeinsames Prozessziel zu erreichen. Direkter Kontakt zwischen dem Menschen und dem bewegten Roboter ist nicht vorgesehen und ist daher zu vermeiden.
  • Kollaboration: Mensch und Roboter arbeiten miteinander, Hand in Hand, um ein gemeinsames Prozessziel zu erreichen. Direkter Kontakt ist erforderlich und daher nicht zu vermeiden.

Die Grafik zeigt, wie die Hauptmerkmale, Formen der MRK und die Sicherheitsbetriebsarten nach ISO TS15066 zusammenhängen. Es geht auch hervor, dass das Schutzprinzip Leistungs- und Kraftbegrenzung für jede Form einer MRK geeignet ist. Hieraus wird deutlich, weshalb MRK-Applikationen, die dieses Schutzprinzip umsetzen, aktuell einen hohen Stellenwert bei Anwendern und Herstellern genießen.

Ungewollter Kontakt

Sensitive kollaborative Roboter wie z.B. das Modell iiwa von Kuka werden mithilfe von Kraft- oder Drehmomentsensoren sowie moderner Steuerungstechnik dazu befähigt, ungewollte Kontakte mit Menschen (z.B. Kollisionen oder Klemmungen) zuverlässig zu erkennen. Unabhängig von den technologischen Innovationen ist eine Risikominderung in der Betriebsart Leistungs- und Kraftbegrenzung nur möglich, wenn der Roboter im Falle eines ungewollten Kontakts mit Menschen ein bestimmtes Beanspruchungsniveau (z.B. Schmerzeintritt) nicht überschreitet. Biomechanische Belastungsgrenzen für verschiedene Körperregionen legen dieses Niveau fest und verhindern, dass der Roboter den Menschen darüber hinaus unzulässig verletzten kann. Die ISO TS15066 verzeichnet derzeit nur verifizierte Belastungsgrenzen für den quasi-statischen Kontakt, wie er z.B. bei der Klemmung einer Person durch einen Roboter vorliegt. Weiterhin gelten die Grenzwerte nur für den geringfügigen Beanspruchungsfall Schmerzeintritt. Der Schmerzeintritt bezeichnet den Übergang eines Druckgefühls in ein Gefühl, dass auch als schwacher oder sehr leichter Schmerz wahrnehmbar ist. Demnach lassen sich mithilfe der Grenzwerte aus der ISO TS15066 nur Klemmungen oder Quetschungen einer Person durch einen Roboter hinsichtlich des Schmerzeintritts zuverlässig bewerten.

Schmerzeintritt durch Stoßversuche

Die druckbasierten Grenzwerte für den Schmerzeintritt bei Klemmungen wurden von der Universitätsklinik Mainz im Rahmen einer Probandenstudie erarbeitet. Für die Absicherung dynamischer Kontakte bzw. Kollisionen, wird von der ISO TS15066 aktuell ein pauschaler Faktor von 2 angenommen, mit dem die Grenzwerte für den quasi-statischen Kontakt auf den dynamischen Fall hochskaliert werden. Dieser Faktor entstammt einer Literaturstudie und ist für alle infrage kommenden Körperregionen des Menschen nicht hinreichend verifiziert. Außer dem Faktor 2 sind hiervon auch die kraftbasierten Grenzwerte für quasi-statischen Kontakt betroffen, die ebenfalls einer Literaturrecherche entstammen. Der Schmerzeintritt infolge einer Kollision wurde im Auftrag der Berufsgenossenschaft Holz & Metall (BGHM) vom Fraunhofer IFF in einer Probandenstudie untersucht. Insgesamt wurde an 21 Körperregionen von 20 Probanden Stoßversuche mithilfe eines mechanischen Pendels durchgeführt. Hierbei wurden die Parameter Pendelmasse, Aufprallgeschwindigkeit und der Kontaktkörper variiert, und somit ein großes Spektrum an verschiedenartigen Mensch/Roboter-Kollisionen abgedeckt. Jede der 21 Körperregionen des Probanden wurde anfangs mit Stößen sehr schwacher Energie belastet. Die Energie wurde dann immer weiter erhöht, bis der Proband durch die stoßartige Belastung einen leichten Schmerz verspürte. Neben druckbasierten Grenzwerten wurden auch kraftbasierte Grenzwerte für den Schmerzeintritt bei dynamischen Kollisionen erarbeitet.

Seiten: 1 2Auf einer Seite lesen

Fraunhofer-Institut IFF
www.iff.fraunhofer.de

Das könnte Sie auch Interessieren

Bild: Conductix-Wampfler AG
Bild: Conductix-Wampfler AG
Lösungspaket für FTS und AMR

Lösungspaket für FTS und AMR

Conductix-Wampfler, ein Hersteller von Systemen für die Energie- und Datenübertragung zu beweglichen Verbrauchern, zeigt auf der diesjährigen Logimat ein umfangreiches Lösungspaket für fahrerlose Transportsysteme und autonome mobile Roboter, bestehend aus Systemen zur Batterieladung, Energiespeichern und Kommunikationslösungen inklusive einem Nothalt-System.

Bild: Faulhaber/ EduArt
Bild: Faulhaber/ EduArt
Einstieg in die mobile Robotik leicht gemacht

Einstieg in die mobile Robotik leicht gemacht

Typischerweise entlasten Roboter Menschen von monotonen Tätigkeiten. Das gilt auch für den Transport in der Produktion und Intralogistik. Hier können in zahlreichen Anwendungsfällen autonome mobile Roboter oder fahrerlose Transportsysteme zu effizienzsteigernden Helfern werden. Allerdings fehlt in vielen Unternehmen noch das Knowhow bzw. die Erfahrung im Umgang mit diesen Systemen. Eine entsprechende Roboterlernplattform erleichtert Anwendern nun den Einstieg in die Welt von AMR und FTS. Von den eingesetzten Antrieben wird in der Lernplattform ebenso wie in der realen Anwendung einiges verlangt.

Bild: Linde Material Handling GmbH
Bild: Linde Material Handling GmbH
Auf dem Weg zum autonomen Outdoor-Stapler

Auf dem Weg zum autonomen Outdoor-Stapler

Im Forschungsprojekt ‚KAnIS – Kooperative Autonome Intralogistik Systeme‘ haben die Projektpartner Linde Material Handling und die technische Hochschule Aschaffenburg Lösungen für die anspruchsvollen Einsätze autonomer Gegengewichtsstapler entwickelt, die sowohl im Innen- als auch im Außenbereich Lasten bewegen. Ein Schwerpunkt lag auf deren kooperativem Verhalten: Über ein 5G-Netz und einen Edge-Server tauschen die Fahrzeuge Informationen in Echtzeit aus und können sich gegenseitig vor Hindernissen warnen.