Elitäres Versagen

Elitäres Versagen

Fachkräftemangel. Das Problem ist bekannt, hinlänglich durchdiskutiert, doch es traut sich offenbar niemand, die Ursachen dafür nachhaltig abzustellen. Gut, manche sind irreparabel.
Die Generation „Null Bock“ lässt grüßen. Aber es gibt durchaus erfolgversprechende Ansätze und innerhalb des
deutschen Bildungssystems akuten Handlungsbedarf.

Michael Lind schreibt seit 30 Jahren für und über die nationale und internationale Roboter- und Automatisierungsbranche. Er war knapp zwei Jahrezehnte lang Chefredakteur (später auch Herausgeber) einer Fachzeitschrift zu diesen Themen. (Bild: Michael Lind)

In einem Brief schreibt der römische Philosoph Seneca an einen seiner Schüler „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“. Wer diesen Satz grundlegend umgedeutet hat, nämlich dass man nicht für die Schule lernt, sondern für das Leben, ist nicht überliefert. Aber seit Pestalozzi und Fröbel berufen sich nahezu alle Pädagogen auf diese Version. Nicht überliefert ist ebenfalls, weshalb die Väter unseres Grundgesetzes vor 70 Jahren die Bildungshoheit den Bundesländern übertragen haben.

Seither wird an den Schulen zwischen Glücksburg und Garmisch nach völlig unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet, was dazu führt, dass weder die Inhalte der zu vermittelnden Lehrstoffe noch die Ergebnisse abgelegter Prüfungen bundesweit miteinander vergleichbar sind. Ich kenne Kinder von Bundeswehrsoldaten, die aufgrund der Dienststellung ihres Vaters alle paar Jahre umziehen mussten und sich in den jeweiligen Schulen entweder zu Tode gelangweilt haben oder aber heillos überfordert waren. Wieso eigentlich gilt ausgerechnet beim Thema Bildung in Deutschland nicht das Gleichheitsprinzip? Wieso hat ein 1er-Abiturient aus Berlin, Bremen oder Niedersachsen bei der Bewerbung um einen Studienplatz geringere Chancen als ein 1er-Abiturient aus Bayern oder Baden-Württemberg?

Man muss der einstigen DDR ganz viel Schlimmes anlasten, aber in puncto Bildung wenig. Entkleidet von allem ideologischen Gefasel gab es ein einheitliches System, in dem jeder, der vom Intellekt her mitkam, gefördert wurde. Für die einen war nach der 8. Klasse Schluss (Grundschule), für die anderen nach der 10. (Realschule). Darauf folgte in der Regel eine Ausbildung zum Facharbeiter. Wer anstelle dessen sofort an schnell verdientes Geld wollte, der verdingte sich als Ungelernter oder Hilfsarbeiter in der Industrie, der Landwirtschaft oder der Viehzucht, in Reinigungsbrigaden, im Gerüstbau, als Kohlenträger oder Müllmann. Wer aber nach der 8. Klasse dank seines Zeugnisses die Zulassung zum Abitur geschafft hatte, quälte sich auf einer der erweiterten Oberschulen vier weitere Jahre zur Matura. Sämtliche Prüfungen zum Abschluss der 10. Klasse oder zum Abitur waren vom Bildungsministerium zentral angeordnet, alle Fragen und Aufgaben DDR-weit die gleichen, in Bergen auf Rügen ebenso wie etwa in Sonneberg oder Dresden. Das nenne ich Bildungsgleichheit. Und alle Ergebnisse waren flächendeckend absolut vergleichbar und sind respektiert worden.

Jüngst haben bundesweit 60.000 Abiturienten bzw. deren Eltern in einer Onlinepetition geklagt, dass das diesjährige Mathe-Abi zu schwer gewesen sei. Ja, was, bitteschön, erwarten die denn? Rechenaufgaben aus der Grundschule? Und prompt sind die Kultusminister verschiedener Bundesländer eingeknickt, haben versprochen, die Prüfungsfragen neu zu bewerten anstatt zu sagen, was wirklich Sache ist: Ihr habt versagt. Das führt mich zurück zum bildungspolitischen Leistungsprinzip hierzulande: Wer Erfolg haben will, muss Leistung zeigen. Und so, wie der Erfolg bekanntlich viele Väter hat, kennt der Misserfolg nur einen: den „Versager“ selbst. Das ist eine unbequeme Wahrheit, aber die schlichte Konsequenz des Leistungsprinzips.

Vor einigen Wochen unterhielt ich mich mit der abiturprüfungsgestressten Tochter eines befreundeten Ehepaares. Befragt, welche Erkenntnisse aus der gymnasialen Bildung sie denn nun in ihr anstehendes Studium mitnehmen und einbringen wird, war ihre Antwort (O-Ton in Kurzfassung): „Wir lernen immer noch von Test zu Test, von Prüfung zu Prüfung. Anschließend wird die Festplatte im Kopf gelöscht, um Platz zu schaffen für die wirklich wichtigen Dinge im Leben: Freunde, Shoppen, Party.“ Da ist er wieder, der Seneca.

In diesem Zusammenhang muss es nicht verwundern, dass in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 30 Prozent der scheinbaren Elite ihre Studien abbrechen, weil sie sich den geforderten Leistungen nicht (mehr) gewachsen fühlen. 20 Prozent tun das aus finanziellen Gründen, knapp ebenso viele geben Motivationsprobleme an. Um das verbleibende Drittel werben große wie kleine Arbeitgeber hierzulande. Bei diesen Quoten kann man nur eines testieren: Unser Bildungssystem hat auf breitester Front versagt. Mehr zu diesem Thema gibt es in der nächsten Ausgabe. (mli)

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