Flottenmanagement und AGV-Integration auf der Leitebene

Flottenmanagement und AGV-Integration auf der Leitebene

Neue Ära im Halbleiterwerk

Im schweizerischen Lenzburg produziert Hitachi ABB Power Grids Leistungshalbleiter für verschiedene Branchen. Um die Produktion dort wettbewerbsfähig zu halten, war eine deutliche Produktivitätssteigerung notwendig. Mit einem modernen Flottenmanagement und der direkten Einbindung der Leitebene wurde ein außergewöhnliches Automatisierungsprojekt umgesetzt, das fahrerlose Transportsysteme und Roboter zu einem vollautomatischen Prozess kombiniert.

Die Streckenführung der AGVs ist variabel, bei plötzlich auftretenden Hindernissen können die mobilen Einheiten eigenständig anhalten. (Bild: BlueBotics SA)

Die Streckenführung der AGVs ist variabel, bei plötzlich auftretenden Hindernissen können die mobilen Einheiten eigenständig anhalten. (Bild: BlueBotics SA)

Da der diskontinuierliche Backend-Prozess als besonders geeignet ausgemacht wurde, begann Hitachi ABB Power Grids hier mit der Automatisierung. Das zugehörige Programm mit dem Namen Genesis startete im Jahr 2014: über 100 Teilprojekte, 20 neue Produktionseinheiten, mehr als 50 Roboter und zunächst sechs fahrerlose Transportfahrzeuge (engl. AGV) mussten schrittweise in das Manufacturing Execution System (MES) integriert werden.

Zum Testen entstand eine Pilotanlage mit echten Produktionszellen und Betriebsmitteln sowie vier fahrerlosen Einheiten und mehreren ABB-Robotern. Sie umfasste bereits alle vorgesehenen Elemente im kleinen Maßstab, sodass Hardware, Software und Schnittstellen getestet werden konnten. Erprobt wurde auch die Kommunikation sowie die mechanische Übergabe zwischen den AGVs und der Produktionsausrüstung.

Automatisierter Produktionsprozess

Das endgültige Programm umfasst mehrere automatisierte Produktionszellen. Die Logistik übernehmen speziell entwickelte Einheiten, die mittels Autonomous Navigation Technology (ANT) von BlueBotics angesteuert werden. Das System nutzt ortsunveränderliche Umgebungsobjekte als Bezugspunkte für die Fahrzeuglokalisierung. Zudem kombiniert es Informationen aus den Encodern und Laserscanner der mobilen Einheiten zu einer Positionsgenauigkeit von ±1cm bzw. ±1°. Bei einem plötzlich auftretenden Hindernis können die AGVs eigenständig anhalten. Eine feste Verbindung zwischen den einzelnen Zellen kann daher zugunsten einer variablen Streckenführung entfallen.

Die Koordinierung des gesamten Ablaufs erfolgt über das MES und ein Leitsystem, das ABB Ability Manufacturing Operations Management (MOM). Im Gegensatz zu herkömmlichen Automatisierungslösungen, wo der Materialfluss fest in der Zelle programmiert ist, wird hier die Geschäftslogik ins MES verlagert, die somit ohne Ändern der Programmierung in den Roboterzellen flexibel angepasst werden kann.

Bescheidene Anfänge

Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist die Produktionsleittechnik des MES. Dieses System behält den Gesamtüberblick und koordiniert alle Vorgänge. Für die Logistik zwischen den Zellen kamen mehrere Möglichkeiten infrage. Erst wurde ein herkömmliches Transportsystem, dann eine Deckenförderbahn erwogen – beides wurde verworfen. AGVs haben es hingegen ermöglicht, die gesamte Anlage zu automatisieren, obwohl ursprünglich nur die Automatisierung eines Teilbereichs geplant war.

Komplexer Prozess als nahtlose Abfolge

Die Halbleiterherstellung ist prozesstechnisch sehr komplex und stellt hohe Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit. Geht etwas schief, muss nachvollziehbar sein, welche Maschinen und Materialien involviert waren. Alle AGVs zu integrieren, war schwierig, denn die Produktion in Lenzburg umfasst viele Einzelschritte, über die das MES informiert sein muss. Die AGVs müssen also zuverlässig mit der Produktionsausrüstung kommunizieren. So bestand die größte Hürde für die Fahrzeuge in der Interaktion mit der Produktionszelle. Der automatische Transport der Bauteile-Kassetten erforderte ein spezielles Verfahren sowie die Koordination und Synchronisation mit der Ausrüstung und dem MES. Demnach mussten spezielle, in dieser Branche übliche Handshake-Protokolle implementiert werden.

Die Kommunikation für die Installation erfolgte problemlos per WLAN über ein Industrienetzwerk. Die Latenz war zu vernachlässigen, da keine Echtzeitkommunikation benötigt wurde. Das MES erhält aus der Produktionshalle die Statusmeldung, dass eine Zelle ihren Produktionsschritt beendet hat und Material entladen werden muss. Das System meldet dann wiederum an die ANT-Serversoftware, also das Flottenmanagement, dass die Maschine entladen werden kann. Daraufhin setzt sich ein AGV in Bewegung.

Im Endergebnis werden die Chips im ersten Prozessschritt in das Werkzeug eingelegt und das fertige, geprüfte Modul kommt am Ende der Linie heraus – ohne dass eine einzige Person das Produkt berührt hat. Transport und Versand erfolgen dann ebenso vollautomatisch wie die Rezepturauswahl, während mehrere Produktstrecken parallel gefahren werden.

Wichtige Fragen vor der Investition in AGVs

Beim Umstieg auf ein fahrerloses Transportsystem, sind fünf wichtige Fragenblöcke zu beantworten:

  • Wie wird das Fahrzeug installiert? Wurde neben der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Fahrzeugs auch der Installationsaufwand bedacht? Dauert die Integration Stunden, Tage oder gar mehrere Wochen? Wird Unterstützung durch externes Personal vor Ort benötigt? Wie stark werden die normalen Betriebsabläufe beeinträchtigt?
  • Wie einfach lassen sich Strecken anpassen und modifizieren? Strecken, auf denen sich Roboter bewegen, müssen gelegentlich angepasst werden. Genügt dabei eine einfache Änderung der digitalen Pfade oder sind aufwändige, bauliche Änderungen erforderlich?
  • Lässt sich der Fahrzeugpark beliebig erweitern? Vielleicht bedarf es aktuell nur eines Fahrzeugs. Aber was, wenn später doch mehrere notwendig sind? Dann sollte die Einbindung einer weiteren mobilen Einheit kein komplett neues Projekt bedeuten. Wichtig ist auch zu wissen, oder das System flexibel genug verschiedene Marken oder Modelle zu integrieren.
  • Welche Wartungsverträge werden angeboten? Maschinen müssen regelmäßig gewartet werden. Daher sollte der angebotene Wartungsvertrag den individuellen Anforderungen des Unternehmens entsprechen.
  • Wie hat sich das System bislang in der Praxis bewährt? Wenn man auf unangenehme Überraschungen verzichten will, sollte man sich informieren, wie viele der Fahrzeuge bereits im Einsatz sind und wie sie sich bisher bewährt haben. So lassen sich Risiken besser abschätzen. Im Zweifel sicherheitshalber einen Anwender zu seinen Erfahrungen kontaktieren.

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