Artikelserie: Robotikbranche in Dänemark (Teil1/2)
Im Land der Cobots
In Sachen Robotik hat sich Dänemark mittlerweile international einen Namen gemacht, den man nicht nur auf den Erfolg von Universal Robots reduzieren darf. Ganz im Gegenteil: Rund um die Stadt Odense hat sich in den letzten Jahren ein Vorzeige-Cluster entwickelt, wie es kein zweites gibt. Hier erarbeiten eine Vielzahl an Startups, aber auch bereits gewachsene Unternehmen, gemeinsam mit Forschungsinstituten und Hochschulen die Zukunft der Robotik. Dass in Dänemark die MRK-Technologien den Transfer in die Praxis bereits geschafft haben, war auf der lokalen Industrieleistungsschau HI 2019 deutlich zu spüren.
Wie die Robotik ins dänische Odense kam? Ursprünglich durch den Schiffbau. Ganz konkret war es eine lokale Werft, die Schiffe für die Maersk-Linie baute, die heute als größte Containerschiff-Reederei der Welt gilt. Denn als sich in den 1980er-Jahren das Roboterschweißen in den Karosseriewerken der Automobilisten durchsetzte, blieben auch anderen metallverarbeitenden Branchen die Vorteile der neuen Technologie nicht verborgen. In Odense ging es darum, sie bestmöglich auf den Marinebereich zu adaptieren – nicht nur bei der Werft direkt, sondern auch an der Universität. Rund zehn Jahre später – der europäische Schiffbau steckte längst in der Krise – schloss die Werft ihre Tore. Doch die Robotik blieb in Odense. Nicht nur durch die Hochschulforschung, auch das Danish Technological Institute (DTI) widmete sich diesem Bereich in vielen Projekten – unter anderem dem neuen Feld der Leichtbaurobotik, aus dem letztlich die Kinematiken von Universal Robots (UR) hervorgingen.
Cobot-Pionier Universal Robots
Der wirkliche Robotik-Boom in und um Odense kam aber erst lange nach den Ursprüngen im Schiffbau. Und natürlich ist er in gewisser Weise auf die Entwicklung von Universal Robots zurückzuführen. Denn die erste Generation der UR-Entwickler und -Manager hat unglaublich viel Aufklärungsarbeit in Sachen kollaborativer Roboter geleistet sowie die Begriffe MRK und Cobot geprägt. So erschienen vor rund zehn Jahren der damalige CEO Enrico Krog Iversen und sein Kollege Thomas Visti nicht nur auf den einschlägigen Messen und Veranstaltungen. Sie statteten auch zahlreichen Fachredaktionen in Europa einen Besuch ab. Das Eindrucksvolle damals war: Sie untermauerten die Idee des kollaborativen und einfachen Leichtbauroboters nicht mit Powerpoint-Slides, sondern mit einem der ersten echten UR-Robotern. Den brachten sie direkt mit in die Redaktion, befestigten ihn am Schreibtisch des jeweiligen Redakteurs und drückten ihm das Teach Pendant zum selbst ausprobieren in die Hand.
Treue Vasallen der Robotik
Ein zweiter ganz wichtiger Punkt für das hohe Augenmerk auf die Robotik in Dänemark ist: Auch nach dem Verkauf von UR an den US-amerikanischen Teradyne-Konzern, zog sich die ehemalige Führungsriege nicht aus Odense zurück. Stattdessen investierten sie viel des verdienten Geldes in andere junge Unternehmen sowie Robotik-Startups und stellten ihre langjährig gesammelte Erfahrung zur Verfügung. Dadurch angezogen kamen auch viele andere Investoren: Schätzungen zufolge fließen mittlerweile jährlich rund 150 Millionen Euro in die Robotikprojekte der Region. Die UR-Manager von damals sind dem Cluster treu geblieben: Thomas Visti hält heute als Chef die Geschicke von MIR als Anbieter von mobilen Roboterlösungen auf der Erfolgsspur. Enrico Krog Iversen hegt als Chef von OnRobot große Pläne, wie er im zweiten Teil dieser Artikelserie verrät. Im Allgemeinen ist übrigens nicht nur die Region Odense sehr offen für neue Technologien, sondern ganz Dänemark. Mit welcher Inbrunst dort digitalisiert wird, merkt man als Ausländer z.B. schnell, wenn man versucht Dinge oder Dienste mit Bargeld zu bezahlen. Das ist zwar noch möglich, wird gelegentlich aber mit einem gewissen Lächeln quittiert, das einen selbst etwas als Hinterwäldler fühlen lässt.
Leistungsschau für Industrietechnik
Was in der Welt der Konsumenten beginnt, setzt sich in Geschäftswelt und Industrie fort. Entsprechend erfährt die dänische Fachmesse HI Tech & Industry traditionell große Beliebtheit – nicht nur in der Region. Mit über 700 Ausstellern gilt sie über die Grenzen Dänemarks hinaus in ganz Skandinavien als größter Hotspot für Industrietechnik. „In dieser Hinsicht ist Herning seit 1963 regional und überregional ein Zentrum der Industrie“, unterstreicht Mona Jakobsen, HI-Verantwortliche beim Veranstalter MCH. In der Tat ist das Umland industriell geprägt. Noch mehr zählt aber wohl, dass der Messestandort Herning von allen Seiten aus gut zu erreichen ist – sei es aus den skandinavischen Nachbarländern, aus dem Baltikum oder aus dem Festlandeuropa. „Dänemark nimmt also eine verbindende Rolle zwischen den nordischen Ländern und dem Rest Europas ein“, betont Jakobsen. „Diese Position wollen wir natürlich mittelfristig ausbauen und noch mehr Fachleute aus Deutschland und anderen europäischen Ländern von einem Besuch der HI überzeugen.“ In der Folge wandelt sich das Ausstellungsspektrum der Messe seit Jahren: von ursprünglich klassischen Industrie- und Handwerkthemen hin zu den großen Technologietreibern unserer Zeit – allen voran in Richtung Smart Factory. Entsprechend ist auch der Ingenieursverband IDA (das dänische Pendant zum VDI) eng in das Messeprogramm eingebunden.
Interaktives Messeangebot
Das Bestreben von MCH für große Aktualität der HI-Messe wird gut angenommen. Denn während klassische Industriethemen wie Logistik, Subsupply oder Tools&Welding jeweils nur eine Halle füllen, erstreckt sich der Bereich Automation und Robotik mit vier Hallen auf einen Großteil der Veranstaltungsfläche. In der Folge findet sich unter den Ausstellern alles, was in der europäischen Automatisierung Rang und Namen hat – ganz gleich ob Steuerungstechnik, Motion oder Sensorik. Darüber hinaus trifft man natürlich auf viele dänische und skandinavische Vertragshändler, Vertriebspartner und Lösungsanbieter. Der Erfolg der Messe ist aber nicht nur der modernen thematischen Ausrichtung zuzurechnen, sondern auch einem sehr abwechslungsreichen Angebot. So gibt es etwa zusätzliche Themenbereiche von Messepartnern, z.B. die Windenergie. Darüber hinaus versteht sich die HI nicht nur als klassische Ausstellung. „Mit Aktionen wie unserer Technomania-Halle fördern wir den Austausch und das Networking zwischen Ausstellern, Branchenexperten und Besuchern“, fährt Mona Jakobsen mit Bezug auf einen Teil der Messe fort, den man quasi als Event-Arena bezeichnen kann. Seit drei Jahren treffen sich hier Startup-Firmen, Innovationstreiber der Branche und Tech-Organisationen; es wird referiert, geworkshopt und gepitcht. Das Ganze in typisch ungezwungener und freundlicher dänischer Atmosphäre. Ausgesprochen gut angenommen wird auch das Konferenzangebot der HI. Jeder dritte Messebesucher (insgesamt waren es über 20.000) hatte sich bereits im Vorfeld der Veranstaltung für eine Vortragssession angemeldet. „Viele Weitere entscheiden sich spontan“, erklärt Jakobsen. „Unser Publikum versteht es also ausgezeichnet, die Synergien aus Zuhören, Netzwerken und Entdecken zu nutzen.“
Im Zeichen der Cobots
Mit Blick auf neue Technologien und den Robotik-Hotspot Odense kommt dem Thema Cobots ein außergewöhnlicher Stellenwert auf der Messe zu. Wirklich das komplette Marktspektrum der heute verfügbaren MRK-Kinematiken (siehe auch Marktübersicht MRK in dieser Ausgabe auf Seite 43) war in den Hallen der HI vertreten. Praxistaugliche Anwendungen ohne Schutzzaun waren so allgegenwärtig, dass es sofort auffiel, wenn Roboteranbieter kein solches Exponat zeigten. Durch die Vielzahl der Applikationen und die Art, wie die Zusammenarbeit zwischen Roboterherstellern, Integratoren und mittelständischen Anwendern in Herning präsentiert wurde, drängte sich förmlich der Eindruck auf, das Thema MRK sei letztendlich final im Markt angekommen – zumindest in Dänemark. „Die HI spiegelt hier einfach das rege Treiben und die Vorreiterrolle des Clusters in Odense wider“, resümiert Jakobsen. Und so darf man wirklich gespannt sein, ob dieser Umgang mit Robotern ohne Barrieren und ohne Berührungsängste auch auf der Automatica im kommenden Jahr zu erleben sein wird.
MRK-Kinematik End of Line
Ein gutes Beispiel für den praxistauglichen Einsatz von Cobots in der Produktion liefert Plus Pack, ein dänischer Verpackungshersteller mit über 100-jähriger Firmengeschichte. Seit einem Jahr setzt das Unternehmen eine MRK-Lösung ein, die Mitarbeiter beim End-of-line-Prozess, also dem Verpacken von Verpackungen, unterstützt. Konkret handelt es sich um einen UR-Roboter, der mit einem OnRobot-Greifer ausgerüstet wurde. Er stapelt bis zu 350 Verpackungsgebinde pro Stunde, sobald diese aus den Produktionsmaschinen kommen, und positioniert sie in Einheiten zu je zehn Stück für die Endverpackung. Weil der Cobot je nach Bedarf an unterschiedlichen Produktionslinien eingesetzt wird, musste die Lösung flexibel und mobil umgesetzt werden. Zudem sollte der Roboter eine möglich große Zahl verschiedener Produkte handhaben. An der Stelle spielt der Greifer seine Vorteile aus. Denn mit mehreren kundenspezifischen Fingern lässt er sich unkompliziert für das jeweilige Gebinde auslegen. „Im Endeffekt dauert es nur rund fünf Minuten, um die Cobot-Applikation nach einem Produktwechsel neu einzustellen“, sagt Simon Laigaard, Produktmanager bei Plus Pack. Selbst im Fall von Störungen ist es den Mitarbeitern über das Teach Pendant ohne spezielle Robotikkenntnisse möglich, die Applikation schnell wieder zum Laufen zu bringen. Dass der Roboter dauerhaft und während aller Schichten zum Einsatz kommt, ist übrigens dem Wunsch der Produktionsmitarbeiter zuzuschreiben, die nach ersten Testläufen Cobots schnell Gefallen an dessen Unterstützung gefunden hatten.
Auszeichnung abseits der Branche
Dass man bei Robotik und Automatisierung in der heutigen Zeit nicht mehr zwangsläufig auf die Industrie schließen sollte, unterstrich die Verleihung des DIRA-Awards auf der HI 2019. Der Preis des dänischen Roboterverbands ging nämlich nicht an ein klassisches Fertigungsunternehmen, sondern an das Universitätsklinikum Aalborg. Ausgezeichnet wurde eine Automatisierungslösung, die in Zusammenarbeit mit den Firmen Intelligent Systems und LT Automation entstanden ist. Sie überwacht nicht nur den Transport von Blutproben und deren Analyse, sondern beschleunigt ihn auch signifikant. Entsprechend profitieren nicht nur die Patienten, sondern auch die Mitarbeiter und das Klinikmanagement von der Lösung.
Im zweiten Teil dieser Artikelserie, die in Ausgabe 1/2020 von ROBOTIK UND PRODUKTION erscheint, geht es um dänisches Cobot-Zubehör aus dem Baukasten, klassische anspruchsvolle Roboterapplikationen sowie die aufstrebende Branche der Servicerobotik. (mby)
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