Kolumne von Michael Lind: Warum in die Ferne schweifen…

Kolumne von Michael Lind

Warum in die Ferne schweifen…

„Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen“, soll der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin dereinst prophezeit haben. Belegt ist das keineswegs. Lenin-Forscher gehen vielmehr davon aus, dass dieser Satz das Ergebnis ist aus bewusster personen- und parteikultiger Propaganda und einem durch die Jahrzehnte mitgeschleppten Übersetzungsfehler. Glaubt man den Quellen, dann hatte Lenin in einer Rede wohl gesagt: „Wir müssen ihnen [den Kapitalisten] nur genügend Stricke liefern und sie werden sich selbst aufhängen.“

Michael Lind schreibt seit 30 Jahren für und über die nationale und internationale Roboter- und Automatisierungsbranche. Er war knapp zwei Jahrzehnte lang Chefredakteur (später auch Herausgeber) einer Zeitschrift zu diesen Themen. (Bild: Michael Lind)

Das hat nachweislich nicht so richtig geklappt. Die Gründe dafür pointiert ein Treppenwitz aus DDR-Zeiten: Zum Einen hätte die Produktion von Stricken als Exportgut in den Planwirtschaften der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten eher untergeordnete Priorität gehabt. Zum anderen wollte man die Suizidrate im kapitalistischen Ausland nicht auf DDR-Niveau anheben. Und last but not least habe der nahezu permanente Mangel an Vorprodukten das Vorhaben behindert.

Von den letzten vier, fünf weltweit noch verbliebenen kommunistischen Staaten hat China die stärksten Ambitionen, die Leninsche „Mission Strick“ erfolgreich zu Ende zu führen. Doch die Unternehmen aus dem Reich der Mitte liefern ihren kapitalistischen Widersachern seit über einem Jahr weder Stricke noch sonst irgendwas. Keine Halbleiter-Bauelemente, keine Sensoren, keinen Stahl, kein Aluminium, kein Kupfer, kein Holz, … (oder davon nicht genügend). Offizielle Begründung: Produktions- und Logistikengpässe wegen Covid-19.

Schon schwurbeln Verschwörungsgläubige, dass die Partei- und Staatsführung Chinas Anweisung gegeben hätte, dieses Virus nur deshalb aus dem Labor in die Welt zu entlassen, um führende Unternehmen in westlichen Schlüsselindustrien in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben mit dem Ziel, diese anschließend für ’n Appel und ’n Ei zu übernehmen. Zugegeben, für wirtschaftspolitisch Desorientierte hat das einen gewissen Charme. Belegt doch eine Umfrage des DIHK unter 3.000 deutschen Unternehmen aus allen Branchen, dass 92 Prozent aller Unternehmen der deutschen Automobilindustrie von solchen Lieferschwierigkeiten betroffen sind. Mit Folgen. Das Ifo-Institut senkt seine Wachstumsprognose. Daimler und BMW z.B. liefern aktuell nur Fahrzeuge mit einer „elektronischen Grundkonfiguration“ aus. Kundenspezifische Elektronik-Nachrüstungen gibt es je nach Verfügbarkeit. Bei Porsche fehlen Sensoren für den Reifendruck und für die Sitzverstellung. Das Opel-Werk in Eisenach hat bis zum Jahresende die Produktion sogar gänzlich eingestellt. Belegschaft und Gewerkschaften munkeln bereits von Stilllegung. (Leider nicht ganz zu unrecht, wenn man die Pläne des französischen Mutterkonzerns kennt.) Bei einem Treffen mit Freunden und Bekannten – alle natürlich vollständig geimpft – fragte ein Maschinenbau-Ingenieur einen anderen augenzwinkernd: „Sag mal, Jan, arbeitest Du noch oder wartest Du schon?“

In alledem wollen manche Eiferer bereits untrügliche Zeichen für eine bevorstehende Apokalypse sehen. Ich persönlich bin jedoch der Meinung, dass dieses Virus mit seinen Folgeerscheinungen einen eigentlich überfälligen Anlass bietet, den Sinn und Unsinn der Globalisierung von Wirtschaft und Handel neu und grundlegend zu überdenken. Stichwort: Ecological Footprint.

Das Argument „Wir müssen dort produzieren, wo unsere Kunden sind“ ist nicht von der Hand zu weisen, doch gilt es offenbar nur eingeschränkt für Kunden, die in Deutschland und dem benachbarten Ausland ansässig sind. Wieso eigentlich müssen deutsche Unternehmen Waren und Vorprodukte in Asien, Nord- oder Südamerika fertigen und um den Erdball karriolen lassen, um sie hierzulande zu verbauen, zu verarbeiten oder zu verschlingen? Warum etwa müssen Nordseekrabben in Afrika gepult und anschließend reimportiert werden? Ist ein Leben in Deutschland ohne Honig aus Neuseeland oder ohne Trinkwasser aus der Arktis überhaupt noch möglich? Welchen pekuniären Nutzen haben geringverdienende Alleinerziehende davon, dass hierzulande produzierter Müll auf Halden in afrikanischen oder asiatischen Ländern gelagert wird? Das sind nur drei Fragen, die mir bislang niemand schlüssig beantworten konnte.

Nahezu alle Aufgeklärten rühmen die Errungenschaften der EU. Da muss es doch hier oder in einem Nachbarland auch Fabriken geben, die Elektonikbauteile produzieren, Stahl, NE-Metalle, Haushaltsgeräte, Textilien und sonstiges. Sind beispielsweise Infineon, Carl Zeiss SMT, Siltronic schlechtere Halbleiter-Produzenten als etwa Intel oder Samsung? Wird hochwertiger Stahl außerhalb Deutschlands nicht auch in Österreich, Italien, Polen oder Luxemburg geschmolzen und zu Halbzeugen verarbeitet? Schon mal über den Import von Aluminium aus Norwegen nachgedacht?

Ein führender FDP-Politiker würde an dieser Stelle vermutlich kalauern, dass der Markt das alles regelt. Nein. Das tut der Markt nicht. Das können nur die Entscheider in den Unternehmen bewerkstelligen.

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