Alleskönner oder Spezialist?

Alleskönner oder Spezialist?

Kein Finger zu viel am Greifer

Menschliche Köperteile gelten in der Robotik als gern genutztes Vorbild für Automatisierungslösungen. Um kleine oder zerbrechliche Teile zu bewegen, sind Greifer beliebt, die der menschlichen Hand nachempfunden sind. Doch ist es wirtschaftlich, deren komplexen Aufbau maschinell nachzubauen? Oft ist weniger mehr, zumal sich mit mechanischen Fingerspitzen die Robotergreifer auch nachträglich für zahlreiche Anwendungen anpassen lassen.
Anwender von Automatisierungslösungen wünschen sich im Idealfall einen Universalgreifer, der ähnlich einer menschlichen Hand flexibel und unkompliziert viele Aufgaben ausführen kann. Robotik-Entwickler stehen damit vor der Herausforderung, zum einen den Anforderungen ihrer Kunden so gut wie möglich entgegenzukommen und zum anderen, ein hochwertiges Werkzeug herzustellen, das exakt arbeitet und zugleich den Kostenrahmen nicht sprengt. Elementar bei der Entwicklung von Roboter-Greifern ist die Frage, mit wie vielen Fingern das Werkzeug ausgestattet sein soll. Denn oft wird angenommen, dass eine Roboterhand der menschlichen Hand so ähnlich wie möglich sein muss, um Aufgaben genauso gut wie diese erfüllen zu können. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass Roboterhände keine fünf Finger brauchen. Zudem muss klar sein, dass jeder zusätzliche und vielleicht überflüssige Finger die Produktionskosten unnötig erhöht und die Kontrolle des Greifers verkompliziert. Nach Ansicht des Neurologen Frank Wilson, der die Beziehung zwischen Hand und Gehirn erforscht, spielt die exakte Zahl der Finger keine Rolle. Generell sind sogar weniger Finger für viele Tätigkeiten sinnvoller, weil die Handhabung unkomplizierter ist. Einen Beweis dafür, dass sich beispielsweise fünf Finger besser eignen als vier, gibt es zudem nicht.

Fünf-Finger-Greifer meist nicht erforderlich

In der Forschung wurden bereits Robotergreifer mit zwei, drei, vier und fünf Fingern entwickelt – mit gegenübergestelltem Daumen, einer elastischer Kraftübertragung, die Muskeln imitiert oder Luftventilen, die die Beweglichkeit menschlicher Finger nachahmen. Die menschliche Hand konnte jedoch bisher nicht exakt simuliert werden – den universell einsetzbaren Robotergreifer gibt es bislang nicht. Um die benötigte Anzahl an Fingern für eine Aufgabe herauszufinden, können Entwickler den einfachen Trick anwenden, die geplante Tätigkeit selbst einmal mit ein, zwei oder drei Fingern auszuführen. Mit diesem Test kann die folgende Simulation eines Greifers bereits deutlich realistischer ausfallen. Zunächst sollten die einzelnen Teile oder maßstabsgetreue Modelle mit zwei Fingern miteinander verbunden werden. Schrittweise kann dann jeweils ein weiterer Finger mehr verwendet werden bis zu der maximalen Anzahl an Fingern. Dieser Vorgang hilft dabei, ein Gefühl für die Funktion zu entwickeln, die der Greifer später haben soll.

Spezifischer durch Fingerspitzen

In der industriellen Robotik wurden viele Greifer-Modelle für bestimmte Aufgaben hergestellt – in der Regel mit einer fixen Greifkraft, Greifposition und Geschwindigkeit. Diese Werkzeuge können dann in der jeweiligen Applikation angewendet werden und funktionieren dort sehr gut. Sobald jedoch Losgrößen sinken oder das Werkzeug eine hohe Variantenvielfalt handeln muss, wird diese individuelle Fertigung aufgrund langer Umrüstzeiten und benötigter Wechselvorrichtungen aufwendig und kostenintensiv. Forscher arbeiten deshalb stetig daran, die Greifer-Technologie weiterzuentwickeln, Sensoren hinzuzufügen und die Programmierung zu erleichtern. Mit Hilfe individueller, mechanischer Fingerspitzen, die bei Bedarf an das Greifobjekt angepasst werden, lässt sich der Einsatz von Greifern leichter auf ihre Spezialaufgabe ausprägen. Robotergreifer sind so inzwischen fähig, sich ohne Input des Anwenders beispielsweise an besonders kleine oder zerbrechliche Objekte anzupassen, die sie per Formschluss aufnehmen sollen – ähnlich wie menschliche Finger. Die Flexibilität der Robotergreifer ist allerdings begrenzt. Durch Ergänzung einer spezifischen Fingerspitze kann ein flexibler, also adaptiver und leicht zu integrierender Greifer Objekte sicherer erfassen. Der Greifer ist dann zwar nicht in der Lage, ein beliebiges Teil aufzunehmen, jedoch sehr gut darin, genau das in der Anwendung benötigte Teil zu nehmen. Ein Aufgabenwechsel kann dennoch schnell und kostengünstig erfolgen. Whippany Actuation System, ein US-amerikanischer Metallkomponentenhersteller für die Raumfahrtindustrie, nutzt etwa einen Robotiq-Zweifinger-Greifer mit maßgeschneiderten Fingerspitzen in einer MRK-Anwendung (Mensch-Roboter-Kollaboration). Dieser Greifer kann sich verschiedenen Formen mit demselben Programmierungspfad anpassen: So werden Teile unterschiedlicher Größe via Pick&Place in eine CNC-Maschine gelegt und wieder herausgenommen. Die Fingerspitzen machen die Greifarbeit sehr viel einfacher, da sie speziell für diese Anwendung entwickelt wurden. Zusätzlich ist der Greifer mit einem Luftschlauch ausgestattet, um die zu handelnden Teile zu säubern – eine Tätigkeit, die die menschliche Hand nicht in der Form ausführen könnte. Außerdem kann die Teilerkennung des Greifers sicherstellen, ob das Teil korrekt aufgegriffen wurde und im Griff des Roboters bleibt, bis dieser seine finale Position erreicht hat.

Anpassungsfähigkeit ist entscheidend

Das Nachempfinden der menschlichen Hand ist zwar oft richtig, aber nur so weit, dass der Greifer deren Funktion innerhalb eines Anwendungsszenarios erfüllt. Daher ist es sinnvoll, das Greifwerkzeug im Vergleich zur Hand zu abstrahieren. Sie müssen kosteneffizient und so einfach wie möglich in der Herstellung und Anwendung gestaltet werden. Da Roboter aber heutzutage überwiegend für dieselbe Anwendung genutzt werden, verlangt die betriebliche Praxis noch keine Greifer, die alle Aufgaben übernehmen können. Die verfügbaren Universalgreifer sind in der Regel nicht besonders exakt oder verfügen nur über eine sehr geringe Traglast. Es gibt jedoch einige flexible Greifer, die sich verschiedenen Formen und Geometrien anpassen. Diese sind zwar nicht universell, aber sehr beweglich. Fällt die Entscheidung auf diese Art von Greifern, sollte bei der Automatisierung des Prozesses darauf geachtet werden, dass Sensoren zur Kraftrückmeldung und die Bestückung mit verschiedenen Fingerspitzen unterstützt werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bislang zwei oder drei Finger für den Großteil der industriellen Aufgaben reichen. Um Greifer noch exakter, spezifischer und anpassungsfähiger zu machen, lassen sich viele Werkzeuge mit individuellen Fingerspitzen ausstatten. Mit diesem Instrumentarium lässt sich eine große Bandbreite an Anwendungen in Puncto Kosten, Aufwand und Qualität erfolgreich umsetzen.

ROBOTIQ INC.
http://robotiq.com

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