Erfahrungen mit Exoskeletten aus der Praxis

Erfahrungen mit Exoskeletten aus der Praxis

Länger fit?

Anlässlich der 17. Ausgabe der Fachmesse Logimat in Stuttgart richtete der Veranstalter gemeinsam zusammen mit dem Verein Intralogistik-Netzwerk BW das Vortragsforum ‚Länger fit dank Exoskelett?‘ aus. Es stieß bei den Messebesuchern auf sehr großes Interesse – kein Platz im Forum war mehr frei.

Das Fachforum zum Thema Exoskelette auf der Logimat war ein voller Erfolg und bis zum letzten Platz besetzt. (Bild: Euroexpo Messe- und Kongress GmbH | LogiMAT 2019)

Das Fachforum zum Thema Exoskelette auf der Logimat war ein voller Erfolg und bis zum letzten Platz besetzt. (Bild: Euroexpo Messe- und Kongress GmbH | LogiMAT 2019)

Gegenwärtig sind Exoskelette, also am Körper getragene Unterstützungssysteme, die bei menschlichen Tätigkeiten mechanisch mithelfen, in der innerbetrieblichen Logistik noch wenig verbreitet. Solche Mensch-Maschine-Kombinationen werden mit den Erwartungen verknüpft, die körperliche Leistungskraft des Menschen zu steigern oder den Menschen zumindest vor Fehlbelastungen, Überlastungen und Verschleiß zu bewahren. Zum Heben und Tragen von Lasten gibt es bereits verschiedene körpernahe Lösungen am Markt. Im Logimat-Forum fassten drei Experten unter der Moderation von Dr. Klaus Schmitt, Vorstandsmitglied des Intralogistik-Netzwerks BW, den aktuellen Stand der Dinge zusammen:

Der Logistikanbieter Fiege hat in einem eigenen Feldversuch bereits durchaus positive Erfahrungen mit Exoskeletten gesammelt. (Bilder: Fiege)

Der Logistikanbieter Fiege hat in einem eigenen Feldversuch bereits durchaus positive Erfahrungen mit Exoskeletten gesammelt. (Bilder: Fiege)

Ergebnisse eines Praxisversuchs bei Fiege

Michael Suden leitet als Managing Director Business Unit Industry Logistics die Geschäfte von zehn deutschen Standorten der Fiege-Logistik-Stiftung. Die Unternehmensgruppe positioniert sich unter den führenden Logistikanbietern Europas und hat sich in diesem Marktsegment auf effiziente Lösungen spezialisiert. Das traditionsbewusste Unternehmen erfindet sich immer wieder neu, um im Zeitalter von Digitalisierung und Automatisierung auf dem neuesten Stand zu sein. Suden hat mit seiner Belegschaft in Worms Erfahrungen im Einsatz von unterschiedlichen Wearables gesammelt, z.B. auch mit Datenbrillen für Pick-by-Vision-Lösungen. Aus dem zertifizierten Gesundheitsmanagementsystems des Unternehmens resultierte die Empfehlung, körperliche Anstrengungen unter anderem beim Entladen von Containern im Wareneingang oder bei der Paketverladung im Warenausgang weiter zu verringern. Skelett- und Muskelerkrankungen verlaufen besonders langwierig, weshalb deren Prävention auch aus Arbeitgebersicht große Bedeutung beigemessen wird. Die am Standort Worms gehandhabten Pakete wiegen zwischen 7 und 31,5kg, pro Tag sind bis zu 7.000 Pakete zu bewegen. Aufgrund der flexibel zu haltenden Prozessabläufe können statische Hebesysteme nur begrenzt zum Einsatz kommen, weshalb von Juli bis September 2018 die erste Erprobungsphase eines Exoskeletts durchlaufen wurde. 26 Probanden aus unterschiedlichen Lagerbereichen speisten ihre Erfahrungen mit dem hier verwendeten mechanisch unterstützenden System in die Auswertung ein. Unterstützt wurden insbesondere Bück- und Hebetätigkeiten, wobei Überkopfbewegungen aufgrund der Einrichtung der Arbeitsplätze bereits weitgehend ausgeschlossen sind.

Kurze Tragezeit, geringer Effekt

In dieser ersten Erprobungsphase zeigte sich, dass eine Eingewöhnung erforderlich ist. Einzelne Probanden kamen mit dem System nicht zurecht: Bei kurzen Tragezeiten von einer Stunde oder weniger fiel es ihnen schwer, sich auf das System einzustellen, so dass kaum positive Effekte zu verzeichnen waren. Wird das System hingegen über mehrere Stunden und Tage eingesetzt, ergaben sich spürbare Entlastungen. Einmal mehr zeigte sich außerdem, dass für die Akzeptanz von Neuerungen eine aktive Begleitung seitens des Führungspersonals äußerst wichtig ist – hier profitiert die Belegschaft direkt vom implementierten Changemanagement-System der Fiege-Gruppe. Michael Suden präsentierte das eingesetzte Exoskelett live während des Forums zusammen mit einem seiner Mitarbeiter: Es entspricht mit 2,8kg Gewicht ungefähr einem Wintermantel, und lässt sich innerhalb einer halben Minute an- bzw. ablegen. Auf Nachfragen aus dem Publikum bestätigte der Mitarbeiter, dass er das System sehr zu schätzen gelernt habe. Das Unternehmen will aufgrund der gesammelten Erfahrungen ab März den Praxisversuch mit Unterstützung des Fraunhofer IML weiter ausrollen.

Exoskelette in naher Zukunft

An der Universität Innsbruck sowie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg forscht Prof. Robert Weidner mit einem interdisziplinären Team seit mehreren Jahren zur zukünftigen Gestaltung des Arbeitsplatzes. Neben Konzepten zur Mensch-Maschine-Interaktion und der Technikentwicklung und -evaluation liegt ein Schwerpunkt auf der Entwicklung von technischen Systemen, die hilfe- und pflegebedürftige Personen im Berufs- und Alltagsleben präventiv und operativ unterstützen. Basierend auf den Erkenntnissen, welche Unterstützungssysteme Menschen wirklich wollen, wurden aufbauend auf grundlegenden Untersuchungen zu den physiologischen Voraussetzungen und biomechanischen Effekten über 20 Ansätze für Exoskelette entwickelt – von der Sprunggelenksorthese bis zum Muskelhandschuh. Diese Systeme dienen zur physischen Unterstützung manueller Tätigkeiten z.B. in der Produktion und Logistik, wie die Ausführung von Tätigkeiten in und über Kopfhöhe oder die Handhabung von Lasten. Weidner schilderte aus Forschungsprojekten gewonnene, detaillierte Erkenntnisse. Zunächst führte er grundsätzlich in Gestaltungsmöglichkeiten und zentrale Unterscheidungsmerkmale von Exoskeletten ein. Er nannte Beispiele und klassifizierte ausgewählte kommerziell erhältliche Systeme und solche, die noch erforscht werden. Darauf aufbauend ging er auf grundsätzliche Anforderungen und Methoden zur Evaluation resultierender Effekte ein. Einen besonderen Stellenwert nehmen hierbei biomechanische Effekte ein, die sich beim Einsatz ergeben. Er zeigte exemplarische Effekte anhand von bereits durchgeführten Studien. Die Kenntnis der Effekte ist nicht nur für den Endanwender, sondern auch für den Systementwickler von hoher Relevanz, um Systeme entsprechend der Anforderungen zu gestalten und geeignet einzusetzen.

Thema für die Unfallversicherung

Ralf Schick befasst sich in BGHW und DGUV seit vier Jahren mit Exoskeletten und deren Einsatz an gewerblichen Arbeitsplätzen. Er bildet damit eine Schnittstelle zwischen Herstellern und Endanwendern mit dem Fokus auf Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten. Waren Exoskelette zunächst vor allem in der Rehabilitation zum Einsatz gekommen, hatte sich danach der Automobilbau wegen der dort häufigen Überkopfarbeiten für derartige Systeme interessiert. Neben der Hoffnung, berufliche Belastungen reduzieren zu können, werden mit dem Einsatz von Exoskeletten auch Erwartungen an eine höhere Arbeitsproduktivität verknüpft. Schick begleitet die intensiven Testphasen unterschiedlicher Prototypen in verschiedenen Unternehmen. Im Regelbetrieb werden Exoskelette in deutschen Unternehmen nach seinem Kenntnisstand noch nicht eingesetzt. Er verglich in seinem Vortrag zunächst die Bauarten und Eigenschaften passiver und aktiver Systeme, bevor er auf deren Einsatzmöglichkeiten überleitete. Als technisches Hilfsmittel fallen Exoskelette unter die Maschinenrichtlinie RL2006/42/EG und müssen im Hinblick auf die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bewertet werden. Denkbar wäre aber auch ein Einsatz von Exoskeletten als persönliche Schutzausrüstung oder als medizinisches Hilfsmittel im Rahmen der Inklusion. Der Fachbereich Handel und Logistik der DGUV hat 2018 eine erste Handreichung vorgelegt. Mit Hilfe des aktuellen Projektes ‚Exo@work – Bewertung exoskelettaler Systeme in der Arbeitswelt‘ will die BGHW zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirksamkeit, über mögliche Gefährdungen der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten durch die Nutzung von Exoskeletten beitragen. Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines Leitfadens zur Evaluation von Exoskeletten als Handlungshilfe für die Arbeitswelt.

Intralogistik-Netzwerk in Baden-Württemberg e.V.
www.intralogistik-bw.de

Das könnte Sie auch Interessieren

Bild: Pilz GmbH & Co. KG
Bild: Pilz GmbH & Co. KG
Zugang im sicheren Fokus

Zugang im sicheren Fokus

In Produktionsumgebungen geben trennende Schutzeinrichtungen dem Menschen das Signal, dass sich hinter der Schutztür ein hochsensibler Bereich befindet und daher Vorsicht geboten ist. Hier erhalten Mitarbeiter über ein HMI oder einen Schlüssel, z.B. von Pilz, Zugang zum Prozess hinter dem Schutzzaun. Aber was, wenn die Person dafür nicht qualifiziert bzw. autorisiert wäre und sich oder andere Menschen in Gefahr bringen würde?

Bild: ©Fröhlich Max (LVT)/Liebherr-Verzahntechnik GmbH
Bild: ©Fröhlich Max (LVT)/Liebherr-Verzahntechnik GmbH
Vorabsimulation per digitalem Zwilling

Vorabsimulation per digitalem Zwilling

Die virtuelle Inbetriebnahme einer Palettierzelle mit automatischer Beladung einer Wälzschälmaschine per Roboter von Liebherr-Verzahntechnik konnte die Projektdauer bei einem Getriebehersteller signifikant verkürzen. Die Vorabsimulation per digitalem Zwilling sparte bei der realen Inbetriebnahme Zeit und Kosten und sorgte für Planungssicherheit zum Produktionsstart.

Bild: TeDo Verlag GmbH
Bild: TeDo Verlag GmbH
Wenn das FTS mit dem Roboter…

Wenn das FTS mit dem Roboter…

Autonome mobile Roboter und kollaborierende Knickarmroboter sind zwei Evergreens im Robotik-Trendkarussell. Relativ neu ist allerdings die Möglichkeit beide Helferlein zu kombinieren. Der autonome mobile Roboter erweitert den Arbeitsbereich des Cobots oder auch eines größeren Roboters enorm und macht ihn mobil. Das bietet neue Möglichkeiten z.B. bei der Maschinenbe- und entladung, beim Werkstück- und Materialtransport oder in der Qualitätsinspektion.

Bild: Fronius International GmbH
Bild: Fronius International GmbH
Hohe Bauteilvielfalt

Hohe Bauteilvielfalt

Das österreichische Unternehmen Anton Paar fertigt Messgeräte für vielerlei Branchen. Da zunehmender
Fachkräftemangel und permanent steigende Stückzahlen intelligente Produktionslösungen erfordern, investierte das Unternehmen in eine Roboterschweißzelle von Fronius. Mit der Zelle ist es möglich, einen kompletten Schweißauftrag in einem Zug abzuwickeln, auch wenn eine Charge mehrere unterschiedliche Objekte umfasst.